Zeit sich von einem Management-Dauerbrenner zu verabschieden

Die Lüge von der “Comfort Zone”

Warum “die Mäusestrategie” gefährlicher Unsinn ist

Stefan Willuda
4 min readFeb 27, 2021

--

Der Begriff der Komfortzone ist unwissenschaftlich und dient als Sprachwaffe von vermeintlichen Autoritäten, um über andere Menschen zu urteilen. Mit der Komfortzone wurde ein gefälliges mentales Modell geschaffen, dass im Kontext von Unternehmensveränderungen die unbequeme Befassung mit menschlichen Motiven unnötig werden lässt und Wege, Veränderung inklusiv zu gestalten, versperrt. Dabei braucht es dieses mentale Modell gar nicht.

In den letzten Monaten ist mir der inzwischen schon recht betagte Begriff der “Komfortzone” in den sozialen Medien immer wieder über den Weg gelaufen. Üblicherweise verbunden mit einem eindringlichen Appell, dass jemand (z.B. die Mitarbeitenden) diese Zone verlassen sollten, um Neues im Unternehmen geschehen zu lassen. Gelegentlich wird das Konzept dieser magischen Zone, die man nur verlassen müsse, um endlich Großes zu bewirken, von den Autor:innen auch auf sich selbst angewendet (“Heureka! Ich habe endlich meine Komfortzone verlassen!”).

Zugegeben, ich war schon immer skeptisch, ob es diese Zone überhaupt gebe und ob das Verlassen eben jener Zone wirklich so gewinnbringend ist, wie es postuliert wird. Angetrieben von dieser Skepsis machte ich mich auf den Weg, den Ursprung dieses Gedankenmodells der “Comfort Zone” zu ergründen. Es dauerte gar nicht lang, da führte mich mein Quellenstudium zu der, wie es für mich scheint, originären Quelle dieses Begriffes: Das Buch “Who Moved My Cheese?” von Spencer Johnson, das 1999 veröffentlicht, sehr schnell zum Management Bestseller wurde.

Ich war überrascht, dass der Inhalt des Buches eine vom Autor frei erfundene Parabel ist. Im Buch selbst erklärt der Autor, dass das verarbeitete Konzept von ihm anekdotisch seit den 1970ern als Teil seines Trainings- und Beratungskanons verwendet wird.

Die Komfortzone ist eine dreiste Lüge

Kommen wir also zum Inhalt und dazu, warum die Komfortzone eine dreiste Lüge ist.

Ich werde das Buch nicht nacherzählen. Das Internet ist voll von Zusammenfassungen [1, 2]. Am skurrilsten finde ich diese Videozusammenfassung: https://www.youtube.com/watch?v=jOUeHPS8A8g

Im Kern geht es in der Parabel um Veränderung. Dabei liegt der Fokus auf der extern induzierten Veränderung. “They moved my cheese!”. Gleichzeitig wird mahnend der Vorwurf erhoben, dass die “kleinen Menschen”, die der Veränderung ausgesetzt sind, sich nicht freudig und schnell an die Veränderung anpassen. Der kleine Mensch, der seine Komfortzone nicht ständig verlässt, wird verhungern!

Menschen sind keine Mäuse in einem von Autoritäten erschaffenen Labyrinth.

Nicht nur scheint mir die Bildsprache verräterisch — Menschen und Mäuse werden nahezu gleichgesetzt, die kleinen Menschen leben in einem Labyrinth, das sie selbst nicht erschaffen haben und durch das sie täglich aufs Neue hindurch rennen müssen und es gibt eine höhere Macht, die dem Anschein nach willkürlich Käse im Labyrinth platziert — auch schwingt eine vorahnende Drohung mit — passe dich an oder du stirbst aus!

Der Begriff “Comfort Zone” kommt dabei, wenn ich richtig aufgepasst habe, lediglich ein einziges Mal vor und wird darüber hinaus lediglich angedeutet.

Nun mag man anerkennen, das unser Leben als Menschen auf dieser Erde in gewisser Weise schon genau so wie in der Parabel ist. Wir sind den Zufällen unterworfen und müssen uns an die sich wechselnden Gegebenheiten anpassen. Doch wird diese Metapher aus meiner Sicht hochproblematisch, wenn wir diese auf den Kontext des Unternehmens anwenden. Es wohnt diesem Gedankenmodell ein gefährlicher Paternalismus inne.

Der Autor selbst macht aus dieser Über-Unterordnung keinen Hehl. Es wird im Appendix freimütig darüber gesprochen, dass Change im Unternehmen so viel einfacher laufen würde, wenn doch die “kleinen Menschen” sich nur freudiger an die fortwährenden Veränderungen anpassen würden. Sie könnten doch ihren “Käse” haben, wenn sie sich nur mit verändern. Noch eindeutiger wird das in der Klammergeschichte des Buches, das eine Gruppe von Freunden beschreibt, die ein Gespräch zu ihren aktuellen Herausforderungen führen. Bemerkenswerter Weise sind es überwiegend “die Anderen”, die nicht aus der Komfortzone raus wollen und damit alles so unendlich schwer machen. Zwar gibt es auch die Rückbesinnung auf die eigene Veränderungsträgheit, doch bleibt der Ton überwiegend vorwurfsvoll.

Das Management eines Unternehmens ist keine Naturgewalt.

Mit dieser Darstellung offenbart das Buch die menschenverachtende Lüge. Die Komfortzone wird mit einer zwangsläufigen Über-Unterordnungslogik als Begriff eingeführt, um Menschen zu verorten, die sich nicht freudig einer fremdveranlassten Veränderung anpassen. Die Verantwortung für die Veränderungsbereitschaft wird auf die “Anderen” übertragen. Die Bewertung der Veränderungsbereitschaft wird gleichzeitig durch eine übergeordnete Person mit Autorität vorgenommen. Die daraus resultierende Zuschreibung zu einem Menschen wird damit bindend: “Diese Person verlässt ihre Komfortzone nicht. Sie ist problematisch.” Doch ist es eben nicht so, dass die Gesetze der Natur im Unternehmen eins zu eins Anwendung finden. Es ist nicht so, dass die willkürliche Entscheidung einer internen Autorität mit einer Naturgewalt gleichgesetzt werden kann! Menschen, die sich nicht freimütig einer willkürlichen Veränderungserwartung anpassen, die sie nicht verstehen oder nicht mitgestalten können, handeln intelligent. Diesen intelligent handelnden Menschen einen Vorwurf zu machen ist unlauter.

Das mentale Konzept der Komfortzone wird nicht wissenschaftlich begründet. Es wird erzählerisch benötigt, um sich nicht mit der Komplexität einer organisationalen oder intrapersonellen Veränderungssituation auseinandersetzen zu müssen. Die Komfortzone ist, wenn diese als Zuschreibung auf andere passiert, undemokratisch und menschenverachtend. Sie ist eine Lüge, die Autoritäten nutzen, um zu verurteilen, was sie nicht kontrollieren können!

Die “Komfortzone” wird benötigt, um zu verurteilen, was nicht kontrolliert werden kann.

Das erklärt für mich auch, warum ein so schlechtes Buch zu einem Weltbestseller werden konnte und warum es sich so gut einreiht in andere Zuschreibungsansätze wie z.B. “A, B und C Mitarbeiter”. Die Popularität sagt eben nichts über das Buch aus, sondern über die vorherrschende Geisteshaltung der “Minute Manager”, die dieses Buch und dessen Inhalt weiterverbreiten.

Es ist an der Zeit Veränderung in Unternehmen nicht als zentral gesteuerte Initiative zu verstehen und die Kompetenz zur Arbeit in Veränderung zu erhöhen. Die Theorie ist dazu schon längst vorhanden.

In eigener Sache

Folgt mir auf twitter or LinkedIn um ähnliche Inhalte von mir zu erhalten.

--

--

Stefan Willuda

BetaCodex Consultant, Former Scrum, Kanban and Management Consultant | Agile Coach | TOC Enthusiast | I believe that a humane global economy is possible.